Kinderlied und Wertschätzung (2) – Das Mittelalter und die bedrohten Kinder
In fünf Etappen nimmt uns der Kinderliedermacher Unmada mit auf eine Reise durch das Kinderlied im Wandel der Zeit.
– Ein Text von Unmada Manfred Kindel –
„Wo Honig ist, da sammeln sich die Fliegen, wo Kinder sind, da singt man um die Wiegen.“
(Johann Fischart, 16. Jahrhundert)
Das Wiegenlied ist die älteste Liedform der Lieder von Erwachsenen für Kinder. Erste Aufzeichnungen aus dem 13. und 14. Jahrhundert spiegeln ein für uns befremdliches Verhältnis des Erwachsenen zum Kind wider. Der Kinderliederautor Fredrik Vahle schildert in seinem Buch über die Geschichte des Kinderliedes eindrucksvoll die vielen Merkwürdigkeiten, die Drohungen und Schmähungen der Mütter an ihre Kinder, die in alten Wiegenliedern zu finden sind.
„Swig min libez kint!
Swigest nicht, der wolf dich nint;
Dem will ich dich schiere geben.
Swig, wiltu behalten din leben.“
(zitiert nach Franz Magnus Böhme, 1897)
heißt es in einem der Lieder, die überliefert sind. Das Wiegenlied hat die Funktion des Ruhigstellens des Kindes. Die Frauen waren zu dieser Zeit sehr unterdrückt, ob als Mütter oder Ammen. Überschüttet mit Arbeit wurden Kinder von ihnen meist als lästig empfunden. Es ist anzunehmen, dass die hohe Kindersterblichkeitsrate aus Selbstschutz eine tiefe empathische Bindung der Mutter an den Säugling behinderte. Abtreibungen, Kindweggabe und selbst Kindstötungen waren im frühen und späten Mittelalter durchaus üblich.
Wiegen-, Pest- und Grusellied
Die Tradition der Einschüchterung des Kindes nimmt hier ihren Anfang. Viele Kinderreime und Kinderspiele wie das bekannte „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“, auch als „Pestlieder“ bezeichnet, haben hier ihren Ursprung. Ein für uns heute wichtiger Aspekt dieser alten Spiele und Reime ist die Tatsache, dass Kinder das Gruseln fürchten und lieben. Grusellieder dienen der Angstbewältigung und werden oft sehr lustvoll von Kindern erlebt.
Es ist zu vermuten, dass die Kinder im frühen Mittelalter schon früh abgehärtet werden sollten, was in ihrer rauen Umgebung von Vorteil war. Diesen Aspekt finden wir übrigens in der heutigen Kindererziehung wieder, wenn Kinder mit dem Argument, sie vor sexuellem Missbrauch schützen zu wollen, vor ‚fremden Männern’ gewarnt werden.
Kinder stark machen statt verängstigen
Der mittelalterliche „Buhmann“ (als Variation im Kinderlied auch als „Bi- Ba- Butzemann“ bekannt), also die Verängstigung des Kindes, ist allerdings der falsche Weg. Unsere Kinder, Jungen und Mädchen, müssen klar und deutlich ‚Nein’ sagen lernen. Wir müssen sie stark machen und nicht verängstigen, zumal sexueller Missbrauch leider meistens im familiären Umfeld des Kindes stattfindet.
Natürlich gibt es auch hinreichend Hinweise auf ‚Mutterliebe’ in den Liedern aus dem Mittelalter. Es bleibt aber der Eindruck, als wären die Erwachsenen damals selbst kindlicher gewesen als in anderen Zeitaltern. Kinder wurden nicht unbedingt verachtet, sie wurden einfach anders wahrgenommen. Es gab noch gar keine Kindheit so wie wir sie heute kennen. Einerseits waren Kinder lästig, störten bei der Liebe, andererseits wurden sie gehätschelt und geliebt, aber auch weggestellt wie ein wertvolles Spielzeug. Oft hat man sie einfach als kleine Erwachsene gesehen.
Das Kind als kleiner Erwachsener
Das sieht man auch daran, dass die Kinder von den Malern und Bildhauern im frühen Mittelalter entweder gar nicht oder wie kleine Erwachsene dargestellt werden. Die Proportionen stimmen nicht. Der Kopf eines Kindes ist im Verhältnis zum Rumpf größer als der eines Erwachsenen. Dieser Tatsache, die Phillippe Ariès 1975 in seinem Buch „Geschichte der Kindheit“ beschreibt, werden wir übrigens noch einmal auf unserer Reise durch das Kinderlied im Wandel der Zeit begegnen, wenn wir uns mit der kindlichen Stimme und ihrem Unterschied zur Stimme des Erwachsenen beschäftigen.
Auch heute sind noch Lieder und Spiele bekannt, die aus dem Mittelalter stammen oder in dessen Tradition stehen:
- Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
- Es geht ein Bi-Ba-Butzemann
- Der Plumpssack geht um
- Grusellieder
- Reigentänze und –spiele