Kinderlied und Wertschätzung – Kinder, Lieder und Singen im Wandel der Zeit: Von der Magie im Kinderlied
In fünf Etappen nimmt uns der Kinderliedermacher Unmada mit auf eine Reise durch das Kinderlied im Wandel der Zeit.
– Ein Text von Unmada Manfred Kindel –
Ein Kind fragt: „Was bist du von Beruf?“ Ich antworte: „Kinderliedermacher.“ Darauf das Kind: „Ich möchte auch mal Kindermacher werden.“
Die besten Witze schreibt das Leben selbst. Als Kinderliedermacher hat man jedoch nicht immer nur zu lachen. Wer weiß, wie oft ich die Frage gehört habe: „Ja, kann man denn davon leben?“ Mann kann, Frauen eher seltener. Die Zahl der professionellen Kolleginnen ist bei Weitem geringer als die der männlichen Kollegen.
So richtig ernst genommen wird man als Kindermusiker trotzdem nicht. Anders als beim Abendkonzert für Erwachsene wird man am Morgen in der Grundschule vom Hausmeister beim Aufbau geduzt. Das passiert wahrscheinlich sogar noch Herrn Prof. Dr. Fredrik Vahle, der mittlerweile die siebzig überschritten hat und mit dessen Liedern so mancher Hausmeister ins Bett gebracht wurde. Er ist in meinen Augen einer der bedeutendsten Liederdichter für Kinder nach dem Krieg und hat in seiner Habilitation „Kinderlied – Erkundungen zu einer frühen Form der Poesie im Menschenleben“ interessante Einsichten in die Geschichte des Kinderlieds ermöglicht.
Das Genre Kinderlied: verwaist, belächelt und geringgeachtet
Das Kinderlied ist ein Genre, das von der Musikwissenschaft und Vertretern der etablierten Musikkultur seit Jahrhunderten belächelt und geringgeachtet wird. Schon die beiden Pioniere der Kinderlieddokumentation, von Arnim und Brentano, die 1808 die Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ veröffentlichten, mussten sich herbe Kritik gefallen lassen:
„In den neu erschienenen Bänden wird aus dem Knaben Wunderhorn als Mittel der Verjüngung zum Knabenalter ein heilloser Mischmasch von allerlei butzigen, trutzigen, schmutzigen und nichtsnutzigen Gassenhauern samt einigen abgestandenen Kirchenhauern uns vorgeschüttet.“ (Johann Heinrich Voß im November 1808 im „Morgenblatt für gebildete Stände“ – zitiert aus dem Vorwort von „Ele mele mink mank. Lieder, Reime, Spiele und Tänze für Kinder“, herausgegeben von Bernd Pachnicke)
Heute kümmert sich im Wesentlichen der Musikwissenschaftler Thomas Freitag aus Potsdam um dieses immer noch verwaiste Genre und kämpft dementsprechend mit Vorurteilen. Nüchtern stellt er fest, dass in der Enzyklopädie zur Musik das Wort „Kinderlied“ noch nicht einmal im Stichwortverzeichnis auftaucht.
Das Unbegriffensein des Kindes hat eine lange Tradition
Woher kommt diese Geringachtung, die ja eigentlich alle betrifft, die mit Kindern arbeiten? Noch heute haben ErzieherInnen genau wie ihre Vorgängerinnen – die Ammen vor hunderten von Jahren – einen gesellschaftlich eher geringen Stellenwert. Warum dämmert es niemanden, dass gerade sie die Grundlagen unserer Kinder prägen und damit die Grundlagen für unsere Gesellschaft überhaupt? Warum investiert man ungleich mehr in die Ausbildung von Gymnasiallehrern als in die Ausbildung von ErzieherInnen?
Die Antwort ist so trivial wie ungeheuerlich. Das Kind selbst ist nicht begriffen in seinem Potenzial. Es hat gesellschaftlich gesehen keinen Stellenwert. Neuerdings erhält es ihn lediglich als fehlender demografischer Faktor. Jetzt müssen Kinder her, weil die Rente gefährdet ist – absurd. Leider hat dieses Unbegriffensein des Kindes eine lange Tradition und doch gab es immer Menschen, die dagegen angeschrieben haben, sich um „Kindverstehen“ bemüht haben. Das spiegelt die Geschichte des Kinderlieds.
Die Geschichte des Kinderlieds
„Alle meine Entchen“, „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“: Was singen wir da eigentlich? Sind diese Lieder uralt? Woher kommen sie, wie sind sie entstanden? Was sollten wir wissen, wenn wir diese Lieder mit unseren Kindern singen?
Es gibt einen wichtigen Grund, sich mit der Herkunft der Kinderlieder zu beschäftigen: Kinderlieder spiegeln auf eindrucksvolle Weise wie Kinder in den jeweiligen Epochen, in denen die Lieder entstanden sind, von Erwachsenen gesehen wurden. Insofern geben sie konkret Auskunft über das Phänomen Kindheit in seinem historischen Wandel.
Kindersprüche und –lieder: Zufluchtsort althergebrachter Traditionen
In unserem digitalen Zeitalter können wir uns nur schwer vorstellen, dass Menschen über Jahrtausende hinweg immer auf mündliche Überlieferung angewiesen waren. Diese Tradition der Vermittlung wurde in unserem Kulturkreis von den wandernden Spielleuten, den Geschichtenerzählern und Sängern gepflegt. Davor waren es die Schamanen, die die alten Gesänge und Mythen bewahrten.
Noch heute finden wir in altem Brauchtum, aber auch im alltäglichen Handeln, Rudimente dieser uralten schamanischen Traditionen. Wer heute beim Ausruf von „Toi, toi, toi“ dreimal auf Holz klopft, weiß nicht mehr, dass er mit dieser magischen Praktik einen Baumgeist anruft und um Schutz bittet. Wir müssen keine Schamanen in Südamerika oder Sibirien aufsuchen, auch in unseren Kindersprüchen und Liedern, die seit Generationen mündlich von Kind zu Kind überliefert wurden, finden wir viele Beispiele uralten magischen Handelns.
Vielleicht ist es die Fähigkeit des Kindes, magisch zu denken, die noch nicht abgeschlossene Entwicklung des Verstandes, die es dem Kind ermöglicht, die Welt mit anderen Augen zu sehen als ein Erwachsener. Die Welt um es herum lebt, das Kind ist Teil seiner Mitwelt. Und für das Kind leben nicht nur die Menschen, Tiere und Pflanzen, auch der Staubsauger singt und hinter den Mülltonnen verstecken sich die Geister.
‚Heile-Segen-Sprüche’ und Wetterzauber
Die alten Handwerkszeuge der Schamanen, wie Rassel und Schwirrholz, finden wir als Babyrassel im Kinderwagen und als ‚Fliegende Hummel’ im Kinderzimmer wieder. Wenn ein Kind sich wehgetan hat, dann pusten wir, um den Schmerz zu vertreiben. Nichts Anderes taten die Schamanen unseres Kulturkreises, die noch heute im norddeutschen Volksmund ‚Puster’ genannt werden. Wie ihre Kollegen aus anderen Kulturen, waren unsere Medizinleute aus vorchristlicher Zeit Heiler, also Ärzte, Geschichtenerzähler und Sänger sowie Priester in einer Person. Gerade im Kinderbrauchtum finden wir viele überlieferte Zeugnisse aus der Tätigkeit dieser Menschen.
Da gibt es die ‚Heile-Segen-Sprüche’, wie:
„Heile, heile Segen!
Drei Tage Regen,
drei Tage Schnee,
tut dem Kindlein nichts mehr weh.
Heile, heile Gänschen,
s Mäusche hat e Schwänzche!
Heile, heile Katzendreck,
morgen ist alles wieder weg!“
Es gibt im Kinderlied Wetterzauber wie bei dem Lied:
„Liebe, liebe Sonne,
komm ein bisschen runter,
lass den Regen oben,
wir wollen dich auch loben.“
Bei dem anschließenden Spruch:
„Einer schließt den Himmel auf,
kommt die liebe Sonne raus“,
begegnen wir übrigens einem bekannten Phänomen der schamanischen Praxis, in der Sprechen und Singen miteinander einhergehen und als ein Vorgang betrachtet werden. Das Verstellen der Stimme, die so genannte „Stimm-Maske“ praktizieren Medizinleute und auch im Kinderspiel und im Kinderlied ist das ein üblicher Vorgang.
Im magischen Denken und Handeln sind auch die Wurzeln des Ansingens von Tieren zu finden, wie es im uralten Lied „Maikäfer, flieg!“ und in vielen anderen Liedern zu Schnecke, Kuckuck, Storch und Marienkäfer praktiziert wird. Man spricht mit dem Tier und geht davon aus, dass es versteht und auch antwortet. Als Beispiel sei hier das Kinderspiel genannt, das mit einem Orakelruf eingeleitet wird:
„Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch,
wie viel Jahre leb’ ich noch!“
Das Maikäfer-Lied taucht zuerst in der Literatur in der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ im Jahre 1808 auf, ist aber sehr viel älter. Darauf weisen unzählige Varianten des Liedes hin, die je nach Landstrich im Volksliedgut zu finden sind. In einer Variante aus der badischen Pfalz wird statt ‚Pommerland’ das Hollerland besungen.
Germanischer Götter im Kinderlied
Laut Franz Magnus Böhme, einem Volksliedforscher aus dem 19. Jahrhundert, weist dies auf die Verehrung der germanischen Göttin Holda hin, deren Namen nicht ausgesprochen werden durfte. Dieser Verehrung der großen Göttin, der Urmutter wie sie in der mutterrechtlichen Gesellschaft üblich war, begegnen wir übrigens auch rudimentär im Grimmschen Märchen „Frau Holle“.
Zum Maikäfer-Lied spekuliert Böhme: „Damit ist der große Weltenbrand gemeint, wo nach germanischer Sage die Reif- und Hel-Riesen gegen Wodans Walhall hinaufziehen und zuletzt die Feuer-Riesen. (…) Der letzte Feuerriese schleudert Feuer über sich und die ganze Erde; der große Krieg ist ausgekämpft, Holdaland ist abgebrannt.“ (F.M. Böhme, 1897)
Diese mythologischen Interpretationen im Geist der rückwärtsgewandten Romantiker des 19. Jahrhunderts sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der übrigens selbst mit „Allerleirauh“ eine wunderschöne traditionelle Sammlung von Kinderreimen herausgegeben hat, schreibt dazu: „Im Kinderreim glaubten sie einen Zipfel jener germanischen Vorzeit in Händen zu halten, von der sie berauscht waren.“
Auch heute sind noch Lieder bekannt, die aus vorchristlicher Zeit stammen oder in dessen Tradition stehen:
- Heile-Segen Formeln
- Tierlieder wie „Maikäfer flieg“, bei denen die Tiere „angesungen“ werden
- Naturlieder, bei der die Natur als Gegenüber erscheint (z. B. „Erzähl mir mal Bach“ von Margarete und Wolfgang Jehn)
- Wetterlieder
- Lieder zu den Jahreszeiten und ihren Festen
Danke, lieber Unmada Manfred Kindel, für diese Deine aufschlussreichen Überlegungen zum Kinderlied.
Was die angesprochene Wertschätzung betrifft, ist aus meiner Sicht das Wahr- und Ernstnehmen meiner Person als Kinderliedermacher die eine Sache. Wesentlich halte ich jedoch schlussendlich mein eigenes Wahr- und Ernstnehmen der Kinder, zu denen und mit denen ich singen darf, die mir ihr Vertrauen und ihre Aufmerksamkeit schenken.