Kinderlied und Wertschätzung (4) – Von der Verklärung des Kindes und der Erfindung des Kindergartens

In fünf Etappen nimmt uns der Kinderliedermacher Unmada mit auf eine Reise durch das Kinderlied im Wandel der Zeit.

– Ein Text von Unmada Manfred Kindel –

Das 19. Jahrhundert – Brentano, von Arnim und die Romantiker

Nachdem Martin Luther bereits im 16. Jahrhundert die Verniedlichung als Stilmittel im Kinderlied eingeführt hatte, wurde diese Verkleinerungsform dann besonders exzessiv im 19. Jahrhundert von den Romantikern Achim von Arnim und Clemens Brentano genutzt. 1808 gaben sie gemeinsam die erste umfangreiche Volks- und Kinderlied-Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ heraus.

Brentanos Nachdichtung eines alten Wiegenlieds ist auch heute immer noch eines unserer beliebtesten Schlaflieder: „Das Morgenlied von den Schäfchen“

„Schlaf, Kindlein, schlaf!
Der Vater hütet die Schaf,
Die Mutter schüttelt das Bäumelein,
fällt herab ein Träu
melein.
Schlaf, Kindlein, schlaf!“

Aber nach lauter „Sternelein“, „Lämmerlein“, „Schäferlein“ und „Christkindlein“ knüpft auch Brentano in seiner Nachdichtung an die alte Tradition des Wiegenlieds – nämlich das Bedrohen des Kindes – in einer späteren Strophe an:

„Schlaf, Kindlein, schlaf!
Und blök nicht wie ein Schaf,
Sonst kommt des Schäfers Hündelein
Und beißt mein böses Kindelein
Schlaf, Kindlein, schlaf!“

Allerdings erlöst er das verängstigte Kind in der letzten Strophe:

„Schlaf, Kindlein, schlaf!
Geh fort und hüte die Schaf’!
Geh fort, du schwarzes Hündelein
Und weck mir nicht mein Kindelein!
Schlaf, Kindlein, schlaf!“

Hier wird dem Kind gegenüber Empathie empfunden: Der Erwachsene sieht sich als Beschützer und Verantwortlicher für das schutzlose Kind.

Die Verklärung von Kind, Kindheit und Natur

Allerdings verklären die Romantiker das Kind und die Kindheit, und ebenfalls die Natur, die, wie die Lebenswelt der Kinder, unter der beginnenden Industrialisierung mehr und mehr Schaden nimmt.

„Hinter diesen grünen Bäumen
möchte mein Leben ich verträumen.
Auguste“,

schrieb eine romantisch veranlagte junge Frau ins Gästebuch einer Gebirgspension. Ein Berliner Witzbold setzte darunter:

„Unsinn, Aujuste.
Heiraten musste.“

Die neue Sicht auf das Kind, die „neue Kindheit“ bricht auf mit den Ideen der Kinder, die in die Zeit der Moralisten hineingeboren wurden und nun mit Macht nach Befreiung und Anerkennung des Kindes streben.

Es sind freie Geister wie der Reformpädagoge Pestalozzi, der Volksliedsammler und Dichter Herder und der Theaterschreiber Schiller, die im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Zeitgeist kreiert haben, der ein neues Menschenbild und damit eine neue Sicht auf das Kind hervorbringt.

Die Blütezeit des Kinderlieds im Kindergarten

Friedrich Fröbel (1782–1852), ein deutscher Pädagoge und Schüler Pestalozzis, erschafft den Kindergarten und damit ein Wort, das im Original in 22 Sprachen dieser Erde übernommen wird. Kinder werden wie Blumen gesehen, kleine Pflanzen, die die Fürsorge und Pflege des Gärtners brauchen, der sich mit seinen Schützlingen auskennt und ihnen ein optimales Heranwachsen ermöglicht.

Aus dieser Zeit stammen die meisten unserer bekannten und wie Volksgut gehandelten Kinderlieder. Durch die Institution Kindergarten und das weiterentwickelte Schulwesen wurde die Tradierung dieser Lieder institutionalisiert. So wurden sie quasi konserviert für die Nachwelt.

Bei „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ ist noch das Entstehungsjahr 1824 bekannt. Der Lehrer und Komponist Ernst Anschütz (1780–1861) textete es auf eine damals bekannte Volksweise. Noch immer ist darin der Einfluss der Moralisten des frühen 19. Jahrhunderts spürbar. Auch unser wohl bekanntestes Kinderlied „Alle meine Entchen“ stammt höchstwahrscheinlich aus der Blütezeit des Kinderlieds im Kindergarten. Bei diesem Lied ist der Verfasser verschollen.

Hinter den allermeisten heute noch gesungenen Liedern aus dieser Zeit steht ein einziger Urheber: Kein geringerer als der Dichter unserer deutschen Nationalhymne Hoffmann von Fallersleben (1798–1874).

Hoffmann von Fallersleben, der Vielschreiber

„Ein Männlein steht im Walde“, „Alle Vögel sind schon da“, „Winter ade“, „Kuckuck Kuckuck, ruft’s aus dem Wald“, „Der Kuckuck und der Esel“: Diese Lieder sind Allgemeingut. „Summ summ summ, Bienchen summ herum“, „Morgen Kinder wird’s was gehen“ – schier endlos ist die Reihe der Kinderlieder, die Hoffmann von Fallersleben, der Vielschreiber, uns hinterlassen hat.

So zeitkritisch er sich in seinen Liedern für Erwachsene geäußert hat, so sehr verklärt er in seinen Kinderliedern Natur und macht sie zur ‚Szenerie für Freude und Heiterkeit’ (Fredrik Vahle). Er ist einer der Erfinder der heilen Welt, die uns heute in Volksmusiksendungen begegnet, die vor der Kulisse herrlicher Berglandschaften inszeniert werden. Diese Heile-Welt-Vorstellung hat das Kinderlied bis in das 21. Jahrhundert hinein geprägt.

Der wandernde Dichter ist aber auch ein Vorläufer der Weltmusik. Immer wieder lässt er sich inspirieren von der Folklore anderer Völker. So wird aus dem frivolen französischen Chanson „Ah, vous dirai-je, Maman!“ unser Weihnachtslied „Morgen kommt der Weihnachtsmann“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Neben den Neudichtungen gibt es von ihm auch viele Überarbeitungen alten Volksliedguts. So festigt Hoffmann von Fallersleben eine Tradition des Kinderlieds, die gleichermaßen auf Bewahrung und Erneuerung angelegt ist. Zu Recht wird das Liedgut aus dem 19. Jahrhundert als volkstümliche Tradition bezeichnet.

Deutsche Lieder als Exportartikel in die Türkei

Selbst türkische Kinder singen traditionelle deutsche Lieder aus dem 19. Jahrhundert, allerdings in Türkisch. Der türkische Staat unter Kemal Pascha, dem damaligen Staatsführer, wollte sich mehr dem Westen öffnen und so verpflichtete er französische und deutsche Schulmusiker für türkische Schulen. Die Lehrer brachten ihre Lieder mit, die übersetzt wurden und von den Türken heute als eigenes Liedgut empfunden werden.

Übrigens eine gute Gelegenheit, im Kindergarten und in der Grundschule ein Lied wie „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ auf Deutsch und auf Türkisch zu singen.

Böhme, der Sammler

Am Ende des 19. Jahrhunderts erscheint die große Liedsammlung von Franz Magnus Böhme: „Deutsches Kinderlied und Kinderspiel“. Darin befinden sich über zweitausend Kinderlieder, Kinderspiele und Rätsel. Belächelt und gering geachtet von der Musikwissenschaft seiner Zeit geht es Böhme darum, „Liedchen, Sprüche und Spiele von Kindern und für Kinder, wie solche seit einem Jahrtausend und länger in der Kinderwelt leben“ für die Nachwelt festzuhalten. Das ist auch sein Verdienst.

Sein Kindverstehen ist sehr ausgeprägt. So sagt er: „Wenn man in Reimen und der Sprache der Kinder hie und da einem Ausdrucke begegnet, der uns zu natürlich erscheint und, wie man sagt, unanständig ist, so bedenke man nur: dass das Kind der Natur viel näher steht, als die Erwachsenen“.

Von Selbstzensur und „schweinischen“ Liedern

Damit berührt Böhme ein wichtiges Thema bei der Auseinandersetzung mit Kinderliedern. Kinder sind oft wenig zimperlich im Sprachgebrauch und je mehr sie auf die Pubertät zugehen wird die Sprache mehr und mehr sexualisiert. In allen Liedsammlungen wurde alles weggelassen, was sich nicht ziemte, und auch Liederautoren, die aus der Perspektive des Kindes schrieben, begingen Selbstzensur „aus pädagogischen Gründen“, wie es am Beispiel von Overbeck schon dokumentiert wurde.

Es ist der Verdienst von Ernest Bornemann und Peter Rühmkorf, die in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts tabulos dokumentierten, wie Kinder wirklich untereinander kommunizierten und welche zum Teil „schweinischen“ Lieder sie singen.

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