Inklusion durch Musik als universelle Sprache: Erfahrungen und Reflexionen aus der Praxis

– Ein Text von Matthias Meyer-Göllner –

"Inklusion kann gerade in der Praxis nur gelingen mit und durch Musik", ist Matthias Meyer-Göllner überzeugt.

„Inklusion kann gerade in der Praxis nur gelingen mit und durch Musik“, ist Matthias Meyer-Göllner überzeugt.

Viele Kinder, verschiedene Nationalitäten, unterschiedliche Sprachen und Religionszugehörigkeiten, junge und ältere Kinder, Kinder mit und ohne Behinderung fröhlich unter einem Dach: So könnte man die Vorstellung von praktizierter Inklusion* in der Kindertagesstätte oder in der Grundschule umschreiben. Doch wie kann hier die praktische Arbeit aussehen, wenn gemeinsame Teilhabe mit dem Anspruch auf individuelles Lernen – zwei sich zunächst zu widersprechen scheinende Ziele – zu vereinbaren sind?

Als das Thema zum ersten Mal an mich heran getragen wurde, dachte ich: Was habe ich als Praktiker und Musiker damit zu tun? Seit über 20 Jahren schreibe ich Lieder und singe, spiele und musiziere mit Kindern – was hat das mit Inklusion zu tun? Geht es dabei nicht hauptsächlich um die Bereitstellung institutioneller Rahmenbedingungen und die Veränderung von Erziehungshaltungen? Ist das nicht eher ein Thema für Theoretiker? Und bestenfalls eine Anregung, meine eigene Haltung zu überprüfen?

Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit Neugier und Toleranz erleben

Je mehr ich mich damit befasste, desto deutlicher wurde mir: Inklusion kann gerade in der Praxis nur gelingen mit und durch Musik. Durch gemeinsames Musizieren, mehrsprachiges Singen unter Einbindung der Herkunftssprache und das Übertragen von Rhythmus in Bewegung können Kinder Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit kindlicher Neugier und Toleranz erleben. So machte ich mich also daran, diese Ideen in die Praxis umzusetzen. Für mich als Musiker kristallisierten sich dabei fünf zentrale Themenfelder heraus:

  • Empathie und Wertschätzung
  • Beziehungen gestalten
  • Eigenaktivität und Selbstwirksamkeit
  • Verschiedenheit und Vielfalt
  • Kommunikation mit und ohne Sprache

Ich habe versucht, diese Themen musikalisch umzusetzen. Wie ich dazu gekommen bin und welche Gedanken mich dabei bewegten, möchte ich in diesem Artikel schildern. Ich habe mich bemüht, meine Intention jeweils an Beispielen zu erläutern.

  • Empathie und Wertschätzung – Musik macht den Anfang

Eine wichtige Dimension für sozial benachteiligte Kinder, die in ihren Lebenslagen Mängel erleben, ist die Herstellung von Verlässlichkeit, Kontinuität und Geborgenheit. Darum arbeiten wir in der Gruppe daran, alle Kinder als gleichberechtigte aber unterschiedliche Menschen wahrzunehmen. Begrüßungsspiele im Kreis gehören dazu und die Musik stellt dabei die Emotionalität sicher.

Ein gesungener Jubel für ein einzelnes Kind zum richtigen Zeitpunkt kann den ganzen Tag gelingen lassen. Das Gefühl, mit einer kleinen Bewegung die ganze Gruppe zu beeinflussen, stärkt das Selbstbewusstsein jenseits von z.B. sprachlichen Fertigkeiten. Nicht jedes Kind wird von Anfang an z.B. seinen Namen preisgeben oder eine elementare Tätigkeit vormachen wollen. Aber zum Leben mit Unterschieden gehört auch, dass jeder Mensch sein Tempo hat und sich dementsprechend früher oder später einbringt.

Jedes Kind muss Anerkennung und Wertschätzung finden

Dazu fällt mir ein Spiel aus der Kinderkrippe ein: Die Kinder sitzen im Kreis, einige auf dem Boden, andere bei Erwachsenen auf dem Schoß. Ein Lied wird gesungen, in dessen Verlauf einzelne Kinder einen Gegenstand aus der Mitte nehmen müssen. Es soll der Gegenstand sein (z.B. Ball, Auto, Blume…), der gerade im Lied vorkommt. Die Kinder sind der Reihe nach im Kreis dran. Einige Kinder haben das Spiel schnell durchschaut, nehmen den Gegenstand an der richtigen Stelle und helfen den kleineren, indem sie ihnen den jeweiligen Gegenstand bringen. So gelingt es im Laufe mehrere Durchgänge schließlich fast allen Kindern, ihren Part dem Spiel gemäß zu übernehmen.

Ein kleiner Junge, 14 Monate alt, Schnuller im Mund, sitzt die ganze Zeit bei einem Mitarbeiter auf dem Schoß. Er zeigt kaum Reaktion, beobachtet die ganze Zeit. Inwieweit er das Spiel verfolgt und versteht, ist nicht zu erkennen. Beim letzten Durchgang wäre dieser Junge als letzter an der Reihe, „seinen“ Gegenstand (in diesem Fall einen Spiegel) zu nehmen und – er steht auf und holt sich den Spiegel. Ein hör- und spürbares Staunen geht durch Kinder und Erwachsene der Gruppe, alle sind begeistert.

Jedes Kind muss Anerkennung und Wertschätzung finden, als Individuum und als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe … und unabhängig davon, ob und wie es mitsingt, -klatscht und –tanzt. Jeder Mensch lebt vom täglichen Lob, deshalb kann man ihm gar nicht oft genug sagen: Gut gemacht!

  • Beziehungen gestalten – Musik will spielen

Als drei- und vierjähriger Junge hatte ich eine gute Freundin: „Daisy“ hieß sie und versorgte mich mit meinen ersten Lieblingssongs, denn sie war ein Plattenspieler, auf dem unter anderen auch eine Platte mit Folksongs immer wieder gespielt wurde. Einer davon hieß „Daisy“. Meine Eltern erzählen, dass ich oft lange Zeit vor dem Gerät saß und mit ihm sang. Natürlich hatte ich nie das Gefühl, dass es sich bei „Daisy“ um eine Person handeln würde. Aber ich hatte mir den Plattenspieler in meiner kleinen Welt spielerisch erschlossen.

Auch mit kleinen Kindern Spiele erproben

Im Spiel tritt das Kind in eine Auseinandersetzung mit der Umwelt ein und lernt und wächst daran. Das beginnt schon im frühesten, vorsprachlichen Entwicklungsstadium und hat besonders viel mit der Person zu tun, die beteiligt ist. Deshalb ist es wichtig, auch mit kleinen Kindern Spiele zu erproben, auch wenn die Aktivität dabei meist von uns ausgeht.

"Der Weg, das Potenzial der Kinder in der Musik zu nutzen, geht über Instrumente", weiß Kinderliedermacher Meyer-Göllner.

„Der Weg, das Potenzial der Kinder in der Musik zu nutzen, geht über Instrumente“, weiß Kinderliedermacher Meyer-Göllner.

Kniereiter sind dafür ein klassisches Beispiel aber auch Körpererfahrungs- und Fingerspiele. Mit Lauten, die erzeugt werden können, wird gespielt und Bewegungen werden ausprobiert. Die Musik gibt allem eine emotionale Grundierung, die das Erlebte auf einer sehr basalen Ebene festigt. Spielerisch soll in den ersten Jahren auch der Umgang mit verschiedenen Sprachen sein. Für viele Kinder ist die Mehrsprachigkeit heute Realität, deshalb ist es wichtig, diese auch in der KiTa aufzufangen.

  • Eigenaktivität und Selbstwirksamkeit – Musik musiziert mit Instrumenten

Kinder handeln von Grund auf eigenständig, motiviert und neugierig. Diese grundsätzliche Lernbereitschaft gilt es, aufzugreifen und zu fördern, denn Eigenaktivität ist die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit. Dabei ist das Zustandekommen eines Dialogs die lebenswichtige Grundvoraussetzung für die Entwicklung. Der Weg, dieses Potenzial der Kinder in der Musik zu nutzen, geht über Instrumente. Einfache Instrumente, mit denen erste klangliche und musikalische aber auch andere Erfahrungen gesammelt werden können. (Was geschieht, wenn ich die Klanghölzer übereinander stapele?)

Der „Inklusive Instrumentenzirkel“ als Praxisvorschlag

Die Motivation und Neugier bleibt erhalten, wenn wir den Kindern auch hier ermöglichen, Variantenreichtum zu erleben. Also nicht allen Kindern die gleiche Rassel in die Hand drücken und in der Gestaltung der selbst gebastelten Klanghölzer nicht auf das Erreichen einer bestimmten Norm achten. Auch hier gilt „Unterschied macht schlau!“ Musikalische Betätigung sollte über kurz oder lang in gemeinsame Aktion mit anderen münden. Deshalb wechseln sich Phasen der eigenständigen Exploration mit Phasen des von der Gruppe gelenkten Erprobens ab. In der Gruppe wird dann zunächst die Methode der Imitation gewählt, also des Vor- und Nachspielens, bevor alle gemeinsam ihre Teile musizieren.

Als Praxisvorschlag hierzu soll der „Inklusive Instrumentenzirkel“ dienen: In verschiedenen Ecken des Raumes, wenn möglich sogar in verschiedenen kleinen Räumen sind verschiedene Instrumente zu finden (z.B. Klanghölzer, Rasseln, Trommeln, klingende Stäbe, Glocken, Boomwhackers). Zunächst erhält jede Kleingruppe (3-5 Kinder) eine bestimmte Zeit, um die Instrumente frei zu erkunden. Nach Ablauf der Zeit wird gewechselt. Haben alle Gruppen jede Station einmal durchlaufen, erhält jede Gruppe eine kleine Aufgabe zu einem bestimmten Instrument. Nach Ablauf einer weiteren Zeitspanne, werden die verschiedenen Ergebnisse in der großen Gruppe vorgestellt. Anschließend wird versucht, auf dieser Grundlage gemeinsam zu musizieren.

  • Verschiedenheit und Vielfalt als Gewinn – Musik spielt Theater

Für ein großes gemeinsames Konzert des ganzen Kindergartens wollten wir ein kleines „Ein-Lied-Musical“ auf die Bühne bringen. Es handelt von sechs befreundeten Tieren, die ein Piratenboot bauen wollen. Die Leitung hat der Rabe, der somit natürlich auch die Hauptperson des Stückes ist. Diese Rolle wollte ein sechsjähriger Junge spielen, der als sogenanntes „I-Kind“ Teil der Integrationsgruppe war. Die Erzieherinnen hatten zunächst Bedenken: Wird er der Aufgabe gewachsen sein?

Auf der Bühne kann jeder Mensch seinen Fähigkeiten entsprechend mitwirken

Doch während viele Kinder angesichts der über dreihundert Zuschauer verständlicherweise der ganz große Mut verließ, begeisterte der Rabe das Auditorium: Sein ausdrucksstarker Gesang traf zwar nicht immer genau den richtigen Ton, aber er erreichte offensichtlich sein Publikum, was beide gleichermaßen begeisterte.

Bildungsprozesse, in denen Vielfalt und Heterogenität als Normalität erlebt werden können und eine Gruppenzusammengehörigkeit für alle Kinder erfahrbar wird, bilden den eigentlichen Kern der inklusiven Praxis. Im Theater, auf der Bühne kann jeder Mensch seinen Fähigkeiten entsprechend mitwirken und das umso mehr, je stärker Musik der ordnende Aspekt ist. Das beginnt schon mit dem kleinen Fingerspieltheater (wie wir es vom „Kasper“ kennen) und führt schließlich zu Minimusicalaufführungen, bei denen jeder beteiligte eine eigene Rolle hat – ganz den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben entsprechend.

  • Kommunikation mit und ohne Sprache – Musik schafft Bewegung

Es war ein gutes Konzert. Die Kinder im Publikum und ich hatten viel Spaß miteinander. Vor allem, wenn zur Musik auch noch die Bewegung kam, waren alle begeistert dabei. Etwas unruhiger wurde es nur, wenn ich zwischen den Liedern zu viel zu erzählen hatte. Dann ließ die Konzentration sofort nach und der Saal wurde unruhig.

Eine universelle Sprache: Musik in Verbindung mit Bewegung.

Eine universellen Sprache: Musik in Verbindung mit Bewegung.

Als ich hinterher mit einer Erzieherin dieses Hortes sprach, erfuhr ich, dass alle Kinder in einer besonderen Maßnahme steckten: Ihre sprachlichen Fähigkeiten sollten verbessert werden, um ihnen den Grundschulbesuch zu ermöglichen. Ein großer Teil der Kinder verstand also eigentlich nichts, wenn ich redete. Trotzdem gelang das Konzert, weil wir uns einer anderen, universellen Sprache bedienten: Musik in Verbindung mit Bewegung.

Den Raum und die Umwelt erobern – singend und sich bewegend

Kinder, die sich ihren Mitmenschen nicht in erster Linie auf verbaler Ebene mitteilen, können im kreativen Tanz vielfältige Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten kennen lernen. Das gilt nicht nur für den kreativen Tanz, sondern für alle Formen von Musik und Bewegung. Schon die ganz Kleinen können sich mitteilen, wenn sie mit den Händen auf den Boden trommeln. Daraus wird ein erstes gemeinsames musikalisches Erlebnis.

Später wird der ganze Körper einbezogen und der Raum und die Umwelt werden erobert – singend und sich bewegend. Schließlich gehört zur Aktion immer auch Ruhe und Sammlung, um wieder neue Kraft zu tanken und Spannung aufzubauen für weitere Aktivitäten.

Fazit

Wenn Inklusion gelingen soll und in der Praxis erste Schritte getan werden, geht das nicht ohne Musik. Für die Ansprüche, die aus den Inklusionsideen erwachsen – u.a. vorurteilsfreie Empathie und Wertschätzung, Vielfalt und Verschiedenheit als Gewinn, Kommunikation und Verständigung auch ohne Sprache – ist die Umsetzung mit Musik die ideale Möglichkeit.

Keine andere Betätigung ermöglicht es vielen sehr verschiedenen Menschen, gleichzeitig an ein und derselben Sache tätig zu sein. Im Tanz, im Gesang und im Umgang mit Instrumenten verschwinden im Augenblick die Barrieren, die in anderen Zusammenhängen noch die Gemeinsamkeit erschweren.

Musikalisch-inklusive Arbeit in Krippe, Kindergarten und Grundschule

In diesem Sinne habe ich mich aufgemacht und versucht, diese Ideen ganz praktisch in Lieder, Bewegungsspiele und Tänze und andere musikalische Betätigungen umzusetzen. Und mit Hilfe vieler engagierter ErzieherInnen und LehrerInnen werden diese Lieder hoffentlich ihrem Anspruch gerecht – nämlich Anregung zu sein für musikalisch-inklusive Arbeit in der Krippe, im Kindergarten und in der Grundschule – für alle Kinder.

Literatur-Tipps:

  • „Vielfalt von Anfang an – InklusionInklusion in Krippe und KiTa“. Hrsg. vom Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung, Herder, Freiburg im Breisgau, 2012.
  • „Für alle Kinder – Musik als universelle Sprache in Krippe, Kindergarten und Schule“, Matthias Meyer-Göllner, Kronshagen, 2012

*Inklusion beinhaltet eine wertschätzende Haltung in Bezug auf Diversität und Vielfalt in der Bildung und Erziehung. Heterogenität wird als normale Gegebenheit der Gesellschaft gesehen, und es geht darum den Rahmen und das Umfeld, dieser Heterogenität anzupassen und zu gestalten. Inklusion bezieht sich auf alle heterogenen Eigenschaften in einer Gesellschaft und wird nicht vorranging auf das Thema Migration oder Behinderung bezogen. 

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