Kinderlied und Wertschätzung (5) – Vom Verlust des Singens und einer neuen Vielfalt

In fünf Etappen nimmt uns der Kinderliedermacher Unmada mit auf eine Reise durch das Kinderlied im Wandel der Zeit.

– Ein Text von Unmada Manfred Kindel –

Die Jugendbewegung und ein neues Verhältnis zum Singen

Am Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht der „Wandervogel“ und mit ihr die Jugendbewegung, die nicht so sehr das Kinderlied prägt, wohl aber das Volkslied und ein neues Verhältnis zum Singen überhaupt. Ihr Anspruch des Selbermusizierens und -singens fördert das Heranwachsen von Musikschulen und prägt auch unser heutiges Singverhalten. Das, was heute als Volksliedgut bekannt ist, stammt im Wesentlichen aus Überlieferungen dieser Jugendbewegung, wie zum Beispiel aus der „Mundorgel“, die viele Generationen geprägt hat.

Mit dem Erstarken des Faschismus in Deutschland werden die verschiedenen Gruppierungen der Jugendbewegung entweder verboten oder vom Nationalsozialismus vereinnahmt. Doch das hat ihr Wirken nicht verhindern können. Noch heute finden wir bei den Pfadfindern oder auch bei der Sozialistischen Jugend „Die Falken“ eine Kinder- und Jugendarbeit, bei der das gemeinsame Singen und Musizieren einen besonderen Wert hat.

Das 20. Jahrhundert – eine bewegte Zeit für das Kinderlied

Bezeichnenderweise werden heute eher Lieder aus dem 20. Jahrhundert gepflegt, die in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehen, wie zum Beispiel Paula Dehmels „Leise, Peterle, leise“. Die kritischen Lieder ihres Mannes Richard, der sich mit seinem „Fitzebutze“ mit dem Struwwelpeter anlegt, sind heute so unbekannt wie Bert Brechts Kinderlieder aus den 20er- und 30er-Jahren.

Aus dem gerade vergangenen Jahrhundert haben sich kaum Lieder zu traditionellem Liedgut entwickelt, das noch heute von unseren Kindern oder mit ihnen gemeinsam gesungen wird. Abgesehen davon, dass natürlich viele Lieder die nach den 70er-Jahren entstanden sind, bald als traditionell gelten können.

Diese Lieder von Vahle, Zuckowski, Lakomy, Schöne und Co. gelten aber im Sprachgebrauch immer noch als „neue“ Kinderlieder, vielleicht auch deshalb, weil ihre Produzenten immer noch lebendig und aktiv sind.

Der Faschismus und sein Liedgebrauch

Der Faschismus missbraucht in den Jahren seiner Herrschaft den Gebrauch des Volkslieds genauso wie den Gebrauch des Kinderlieds. Begeistert singende Kinder werden missbraucht als Zierde für die Herrscher, die ihr menschenverachtendes Handeln tarnen mit dem Gesang unschuldiger Kinder, denen sie medienwirksam übers Haar streichen.

Wache Geister wie der Frankfurter Professor Adorno warnten schon vor dem Zweiten Weltkrieg vor einem unkritischen verklärenden Gebrauch von Musik, wie er in den irrationalen Traditionen der Vorkriegszeit zu finden war. Der Faschismus nutzt den Boden der volkstümelnden Singpraxis und führt das deutsche Sprichwort „Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ ad absurdum.

Der Bruch in der Volksliedkultur

Als ich als Straßenmusikant in Holland unterwegs war, wurde mir von einem alten Mann vorgehalten: „Ja, ihr Deutschen könnt gut singen. Das haben wir schon gehört, als ihr hier einmarschiert seid.“ Als Jugendlicher war ich 1971 mit der Aktion Sühnezeichen in Polen. Im ehemaligen KZ Stutthof bei Danzig halfen wir dabei, eine Gedenkstätte zu errichten. Nach harter körperlicher Arbeit am Fundament sangen wir unbefangen unter der Dusche.

Vor der Tür erlitt eine ehemalige Insassin des Lagers, die wie durch ein Wunder überlebt hatte und nun in einem Kiosk Ansichtskarten verkaufte, einen so schweren Nervenzusammenbruch, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden musste. Unsere Lieder hatten ihn verursacht. Es waren dieselben Lieder unter denselben Duschen. Für sie waren ihre Peiniger wieder auferstanden. Ich konnte danach die Lieder der Mundorgel nicht mehr unbefangen singen.

Vom Verlust des Singens nach dem Dritten Reich

Die Sonderstellung eines „Volksliedsängers“ wie Heino war lange Zeit Ausdruck für den Verlust einer „unschuldigen“ Singkultur in Deutschland, deren Pflege, anders als zum Beispiel die Singkultur in Frankreich, in der Breite nicht mehr fortgesetzt wurde. Leider führte das vor allem im Westen Deutschlands neben anderen Faktoren auch zu einem zunehmenden Verlust des Singens überhaupt.

In den 80er-Jahren erschien das Schulbuch für den Musikunterricht „Sequenzen“. Darin befand sich nicht ein einziges Lied. Auch das traditionelle Kinderlied blieb von dieser Entwicklung nicht verschont. Es wurde manchmal zu Recht belächelt und nicht mehr ernst genommen oder gar massiv kritisiert.

Die hier beschriebene Entwicklung hatte Folgen, die bis heute nachwirken. Es gibt kaum noch ein gemeinsames Repertoire. Allgemeine Textunsicherheit und eine mangelnde Singpraxis verhindern das spontane gemeinsame Singen, auch da, wo es von großer Bedeutung wäre, ob bei Familienfesten oder anderen Anlässen, an denen unsere Kinder teilnehmen. Hier vermittelte sich ihnen früher über das Vorbild der singenden Erwachsenen mehr als nur traditionelles Liedgut. Es vermittelte sich die Freude am gemeinsamen Singen und damit in gewisser Weise auch soziale Kompetenz.

Ein neuer Aufbruch in zwei Gesellschaften

Nach dem Faschismus entwickelten sich im Osten und im Westen Deutschlands verschiedene Musikkulturen, die sich auch in unterschiedlichem Gebrauch des Kinderlieds manifestierten. Im Osten Deutschlands war es im Wesentlichen die Singbewegung der DDR, die zwar staatlich initiiert war, dennoch in ihrem Fahrwasser viele Liedermacher wie Gerhard Schöne, Bettina Wegener und viele andere hervorbrachte, die später nicht unwesentlich am friedlichen Umsturz in der DDR beteiligt waren.

Die Zeit der Liedermacher

Auch im Westen waren es die Liedermacher wie Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt oder Reinhard Mey, die eine neue Liedkultur hervorbrachten. Im Nachhinein gesehen waren es Liedermacher wie der später ausgebürgerte DDR-Poet Wolf Biermann oder der Salzbödener Kinderliederautor Fredrik Vahle, der auch im Osten gespielt werden durfte, die wenigstens eine kleine gemeinsame deutsche Liedgeschichte schrieben.

Was sich nun entwickelte war eine ungeheure Vielfalt von Autorinnen und Autoren im Westen wie im Osten, die auf Grund der technischen Revolution sich auch ohne eine Verlagszugehörigkeit Gehör verschaffen konnten.

Die Vorteile einer „Kindermundorgel“

Das hatte den Vorteil, dass sich der musikalische und inhaltliche Horizont entschieden erweiterte und eine große Auswahl an Themen abgedeckt wurde. Ob die Qualität der Lieder für Kinder zugenommen hat, ist fraglich. Ein Nachteil dieser Entwicklung hin zur Vielfalt ist allerdings, dass die Kinder nicht mehr über ein allgemein gültiges Grundrepertoire verfügen, wenn sie in die Schule kommen, an das die Lehrerin anknüpfen kann. Kinder brauchen und lieben Wiederholung auch in der Singpraxis. Es macht Spaß, mit anderen Kindern Lieder zu singen, die man schon kennt. Gemeinhin bekannte Lieder helfen Kindern, sich und andere zu integrieren.

Eine Auswahl von guten Kinderliedern, die von unabhängigen Experten unter Beteiligung von Kindern zusammengestellt wird, und als eine Art „Kindermundorgel“ weite Verbreitung findet, wäre eine große Hilfe.

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